Da fällt mir die Geschichte mit der Schachtel ein: Der Krieg war vorbei, wir schrieben das Jahr 1946. Meine Mutter, superschlank, eher dünn, trug außer den wenigen Kleidern meist ein Lächeln auf den schönen Lippen, wobei ihre braunen Augen blitzten. Sie war eine gute Mutter, die mich, ihr kleines Mädchen, sehr liebte, die ihrem Kind gern einmal etwas schenken wollte – etwas anderes als Liebe und Fürsorge. Vielleicht ein kleines Spielzeug, oder eine Süßigkeit. Nur: Es gab nichts, nirgends. Nach Kriegsende litten wir mehr Hunger als während des Krieges selbst. Und weil Mutti nichts anderes einfiel, hatte sie, wenn ich besonders lieb war und eine Belohnung wirklich vonnöten zu sein schien, ein ganz besonderes Geschenk für ihre sechsjährige Tochter: Ich durfte an der Vorkriegs-Pralinenschachtel riechen.
Wie genau ich mich noch an diese einzigartige Schachtel erinnere! Eine wunderschöne, engelsgleiche Frau mit einem traumhaften Hutgebilde auf dem Kopf lächelte mir zu. Es war eine eher kleine Schachtel, die irgendwann vor der Zeit meiner Geburt einmal ein Viertelpfund Pralinen beherbergt hatte. Mein Vater hatte sie meiner Mutter mit einem Lächeln (oder vielleicht sogar mit einem Kuss?) als Geschenk überreicht – um anschließend die meisten der ohnehin wenigen Süßigkeiten genüsslich zu verspeisen...
Wenn ich mir die Frau mit dem Hut dann eine Zeit lang angeschaut hatte, kam für mich die eigentliche Belohnung: Mutti öffnete die kleine Schachtel, und ich durfte daran riechen. Durfte einen tiefen Atemzug machen und meine kleinen Lungen mit dem nur noch in meiner Fantasie vorhandenen, unbeschreiblichen Duft füllen. Ich kann diesen ganz feinen Schokoladengeruch, diesen Hauch von Luxus, heute noch spüren... Danach wurde die Kostbarkeit wieder in den Schrank zurückgelegt und sorgsam mit der Wäsche zugedeckt, damit sie sich nicht abnutzte – wusste meine Mutter doch nicht, wie lange diese schlimme Notzeit noch anhalten würde, wie oft sie auf diese Schachtel noch zurückgreifen müsste. |